Kalt soll es sein in den Bergen. In Osh hör ich das immer wieder. In den Geschäften, auf der Straße und auch im Touristenbüro. Das ist eigentlich schon geschlossen, denn die Saison ist seit zwei Wochen vorbei. Der einzig verbliebene Mitarbeiter ist nur zum Aufräumen hier, aber trotzdem werde ich von ihm noch mit einigen wichtigen Tipps für die Strecke nach China versorgt. Lebensmittelläden gibt es wohl einige unterwegs, Unterkunftsmöglichkeiten auch. Und insgesamt sind es von hier knapp 260 Kilometer bis zur Grenze. Ach ja, und ich sollte mit Schnee rechnen. Zumindest auf den Pässen und in Sary Tash. Dort hat wohl schon der Winter Einzug gehalten.
Also bis auf den Schnee klingt das doch gar nicht schlecht. Obwohl, eigentlich mag ich den ja auch. Zumindest solange die Straßen einigermaßen frei sind und ich nicht irgendwo eingeschneit werde. Aber trotzdem geh ich doch lieber nochmal auf den Markt und kauf mir eine lange Unterhose. Sicher ist sicher. Ist ja in Osh schon ziemlich frisch. Und die nächsten Tage gehts rauf auf über 3500 Meter. Da ist es also nochmal deutlich kälter als hier. Ansonsten müsste ich aber ganz gut ausgestattet sein. Ganz am Anfang meiner Reise hatte es ja auch geschneit. Und wenn ich da an die Nacht vor der DAV-Hütte denke….das ging ja auch irgendwie. Trotzdem bin ich aber mal wieder etwas aufgeregt.
Nach zwei Tagen in Osh mach ich mich am Mittwochmorgen dann schließlich auf den Weg. Das Wetter könnte besser nicht sein. Es ist sonnig und spätsommerlich warm. Zumindest kann ich im T-Shirt fahren. Erstmal besoge ich mir etwas Proviant: Haferflocken, Apfelsaft, Wasser, ein paar Fertiggerichte und zwei Fladenbrote. Und dann gehts los. Ich verlasse Osh in östlicher Richtung. Und hier beginnt er irgendwo: der Pamir-Highway, eine der höchsten Fernstraßen der Welt und sicherlich der Traum vieler Radreisender. 1300 Kilometer lang, verläuft er zwischen Osh und Dushanbe, der Hauptstadt Tadschikistans. Und auf diesen 1300 Kilometern erwarten einen spektakuläre, atemberaubend schöne Landschaften und kilometerlange Einsamkeit. Der eindrucksvollste Teil ist wohl der Abschnitt in Tadschikistan. Bis dahin komm ich aber leider nicht, denn auf dem Weg nach China werde ich den Pamir-Highway bereits nach knapp 200 Kilometern wieder verlassen. Aber ich freu mich trotzdem unglaublich auf diesen Abschnitt.
Es dauert eine ganze Weile bis Osh hinter mir liegt. Kilometerlang ziehen sich die Ausläufer der Stadt hin. Trotzdem wirkt alles sehr schnell ländlich. Städte kommen nach Osh keine mehr. Ab und an ein Dorf oder Hof. Das wars. Große Anstiege gibt es ebenfalls erstmal nicht. Es geht aber permanent bergauf. Es macht unglaublich Spaß zu fahren. Habs richtig vermisst. Ich hatte aber echt auch eine lange Pause.
Und da sind sie dann auf einmal wieder, die Begegnungen am Straßenrand. Es ist doch schon ein Riesenunterschied, ob man mit dem Fahrrad unterwegs ist oder eben im Auto oder Zug. Auf dem Fahrrad ist immer ziemlich schnell Kontakt da. Man begegnet mir sehr offen und interessiert. Besonders die Kinder. Sie kommen von überall her angerannt, winken und rufen mir ein lautes, euphorisches „Hellooo“ zu. Und dann freuen sie sich bis über beide Ohren, wenn ich ebenfalls zurückwinke und rufe. Von Bauern, die am Straßenrand ihr Obst verkaufen, werde ich angehalten und mit Äpfeln versorgt oder aber einfach von der Straße weg zum Essen eingeladen. Zum Beispiel von Anmar, der mit Nachbarn vor seinem Haus sitzt, als ich vorbeifahre. Umar, den ich in Osh kennengelernt habe, erklärt mir die kirgisische Gastfreundschaft aus einer historischen Sicht: die Jurten der Nomaden standen früher viele, viele Kilometer auseinander. Zwanzig, dreißig oder auch mal fünfzig. Gerade im Winter war es daher ganz klar, dass ein Fremder, der vorbei kam, auf jeden Fall aufgenommen und versorgt wurde. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, meint er.
Auf meiner Fahrt durch die Berge erfahre ich das mehrfach. Gleich am ersten Tag nochmal. Ich habe gerade mein Zelt aufgebaut, da kommt Abelek, ein Schäfer, vorbeigeritten. Ganz interessiert schaut er sich zuerst das Zelt und die vielen Taschen an und lädt mich dann kurzerhand zum Abendessen ein. Mit seinem Bruder wohnt er in einem winzigen Haus, das nur aus einer Küche und zwei kleinen Zimmern besteht. Ohne Toilette und fließend Wasser. Und es ist richtig kalt bei den beiden. Fast so kalt, wie draußen. Daher sitzen wir erstmal mit Mütze und Jacke da. Aber auf dem Ofen dampft schon eine heiße Nudelsuppe. Dazu gibt es noch Brot und eine große Kanne Tee. Irgendwie haben wir alle Hunger, denn wir essen den ganzen Topf leer und sicher zwei, drei Brote. Als ich dann am Gehen bin, begleitet mich Abelek noch bis zum Zelt, denn ich hab meine Taschenlampe vergessen und ist bereits stockdunkel. Und er lädt mich gleich nochmal zum Frühstück ein. Das gibts um sieben. Da soll ich auf jeden Fall wieder vorbeikommen. Gar nicht diskutiert wird, als ich am nächsten Tag meine beiden Brote zum Frühstück beisteuern will. Die werd ich noch brauchen und daher soll ich die mal schön wieder mitnehmen. Und so bleibt mir später nur, mich bei den beiden ganz doll zu bedanken, bevor ich am frühen Vormittag wieder weiterfahre.
Weiter in die Berge. Ich bin voll in meinem Element. Es ist so atemberaubend schön, dass ich kaum vorankomme. Ich schaffe meist nur fünfzig Kilometer am Tag, weil ich überall anhalte, Pausen mache und die Umgebung und das gute Wetter genieße. Das spielt nämlich auch mit. Tagsüber kann ich im T-Shirt fahren und nachts, da gibts zwar leichten Frost, aber da hält mich mein Schlafsack schön warm. So kalt ist es also gar nicht. Glück gehabt.
Insgesamt bin ich fünf Tage in den Bergen unterwegs. Besonders schön finde ich den Abschnitt hinter Sary Tash. Da ist es auch am einsamsten. 70 Kilometer keine einzige Ortschaft und auch kein Hof. Und kaum mehr als ein Auto pro Stunde, was an mir vorbei fährt. Bis Nura, dem letzten größeren Ort vor der Grenze. Über Nura und den Grenzübergang Irkeshtam bin ich schließlich vor zwei Tagen nach China eingereist. Das muss ich jetzt erstmal verdauen, dass ich tatsächlich in China bin. In Kashgar, um genau zu sein. Morgen wirds dann aber schon wieder weitergehen. 1400 Kilometer Richtung Norden, nach Urumqi. 20 Stunden Busfahrt…