Fiese Hügel und freundliche Menschen

In einer langgezogenen Kurve führt die Straße den Hügel hinauf. Schon von der Talsohle aus lässt sich das etwa einen Kilometer entfernte Ende der Steigung erkennen. Der vor mir liegende Höhenunterschied kann eigentlich kaum mehr als 30 Meter betragen, aber wegen des sehr flachen Anstiegs wird es jetzt erstmal wieder eine gefühlte Ewigkeit bergauf gehen, so dass ich erneut ordentlich in die Pedale treten muss. Mit dem ganzen Gepäck reicht schon eine geringe Steigung von wenigen Prozent aus, dass ich ein paar Gänge hochschalten muss und bald nur noch im Schritttempo vorankomme. Oben angekommen bleibt dann aber nicht wirklich viel Zeit, um sich auf die Schulter zu klopfen und durchzuatmen. Ziemlich schnell geht es auf der anderen Hügelseite nämlich wieder bergab, nur um dann bald schon dem nächsten Anstieg entgegenzuradeln. Dreißig Höhenmeter bergauf, zwanzig bergab, vierzig bergauf, fünfzig bergab….so geht das in einer Tour. Im Prinzip schon seit den letzten 2300 Kilometern bzw. fast seit Brisbane. Es gab bestimmt auch mal flache Abschnitte zwischendrin. Aber das können nicht wirklich viele gewesen sein.

Die Ostküste Australiens strengt mich ganz schön an. Sowohl körperlich als auch mental. Auf jeden Fall mit der Zeit. Die Anstiege sind eigentlich nie viel länger als zwei, drei Kilometer, aber die Tatsache, dass hinter dem nächsten Berg immer noch ein weiterer und dann noch ein weiterer kommt, ohne dass das irgendwann mal ein Ende zu haben scheint, zehrt ganz schön an der Substanz. Im Auto merkt man das überhaupt gar nicht. Ein, zwei Prozent erscheinen da immer noch total flach. Man schaut einfach aus dem Fenster und kann völlig entspannt die schöne Landschaft genießen. Ganz anders auf dem Fahrrad. Da bemerkt man selbst flache Anstiege sofort und muss sich die nächste Hügelkuppe dann manchmal auch ganz schön hart erkämpfen. Gerade am Abend, wenn es langsam dunkel wird, man endlich am nächsten Rastplatz ankommen möchte – der ja laut Karte auch gar nicht mehr weit entfernt ist –die Fahrtzeit sich durch die ganzen Hügel aber noch eine Stunde in die Länge ziehen wird, kann das ganz schön an die Nerven gehen. Was hab ich da schon umhergeflucht…

Und dennoch: trotz aller Anstrengungen würde ich Australien schon jetzt zu den schönsten Abschnitten meiner Reise zählen. Landschaftlich ist die Ostküste ein absoluter Traum. Tiefe Wälder, ein Nationalpark nach dem anderen, einsame, oft kilometerlange Strände, Felder, Wiesen, Weiden und beschauliche Ortschaften wechseln einander ab. Und überall ist es schön. Anstrengend zu fahren zwar, aber schön. Jeden Tag komm ich mehrmals an Ecken vorbei, wo ich einfach anhalten und eine Pause machen muss. Deswegen wirds dann abends manchmal ganz schön knapp von der Zeit. Oft erreiche ich meinen Lagerplatz erst nach Einbruch der Dunkelheit. Gekocht und gegessen wird daher meist im Schein meiner kleinen Stirnlampe.

Die Tage sind kurz in Australien. Gerade jetzt, wo der Winter begonnen hat. Sonnenaufgang ist erst kurz nach sieben. Die Dämmerung setzt allerdings schon gegen 16:45 Uhr ein. Um sechs ist es bereits stockdunkle Nacht. Und genauso fühlt sich das dann auch an. Als wär es schon zehn oder elf Uhr abends. Im Dunkeln gibts am Zelt dann nicht mehr viel zu tun. Daher lieg ich abends nach dem Essen und dem Abwasch oft schon gegen sieben im Schlafsack, les und schreib manchmal noch ein bissel – so wie jetzt –  hör ein Hörbuch oder dämmer einfach langsam weg. Je nach Anzahl der abgefahrenen Berge. Morgens steh ich, wenn nicht gerade eine längere Etappe ansteht, oft erst gegen sieben auf, frühstücke gemütlich und fahr dann gegen neun, halb zehn los. Morgens Zeit zu vertrödeln, hab ich mir irgendwie nie abgewöhnen können. Aber das macht ja eigentlich auch gar nichts. Es gibt keine Termine und keinen wirklichen Zeitdruck. Höchstens vielleicht die einbrechende Dunkelheit. Unglaublich entspannend, den Tagesablauf nach der Sonne auszurichten. Besonders am Abend, wo man dann eben schon um sieben einfach ungestraft ins Bett gehen kann.

Es ist aber nicht nur die Umgebung und die Natur, wegen der Australien zu einem der Highlights meiner Tour geworden ist. Vor allem sind es die Menschen hier. Es ist immer wieder ganz unglaublich, wie aufgeschlossen die Australier mir begegnen. Hätt ich so nie erwartet. In Asien hab ich mir nämlich auch schon sagen lassen, dass ich hier wieder auf eine eher westlich-reservierte Mentalität treffen werde. Ich erleb das aber ganz anders. Wirklich jeden Tag treffe ich Menschen, die so freundlich und hilfsbereit sind, dass ich das manchmal selbst kaum glauben kann. Es erinnert mich sehr an den Iran.

Australier unterhalten sich unglaublich gerne und sind dazu auch unglaublich offen. Und so passiert es häufig, eigentlich täglich, dass ich, wenn ich bspw. irgendwo sitze und eine Pause mache, mein Zelt trockne oder am Straßenrand einen kurzen Blick auf die Karte werfe, von irgendwem angesprochen werde. Oft sind das dann total interessante Begegnungen mit Menschen, die zum Teil richtig spannende Lebensläufe haben. So lern ich z. B. Peter kennen, einen 82jährigen Waliser, der mit 76 Jahren Haus und Hof in Wales verkauft hat und nach Australien ausgewandert ist, weil sein Sohn hier mit seiner Familie lebt. Jetzt hat er hier ein kleines Häuschen in Strandnähe, ab und zu kommt sein Sohn mit der Familie vorbei und wenn die mal nicht da sind, läuft Peter mit seinem Metalldetektor gerne die Strände ab, um vielleicht eines Tages mal den ganz großen Fang zu machen. Das Meer spült hier ja so einiges an, wie er sagt. Und Peter erzählt auch so einiges von früher, von seiner Zeit als Militärpolizist in West-Berlin, lange vor dem Mauerbau. Gerade für mich als Ossikind total interessant.

Aber auch so erfahre ich immer wieder eine große Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit. Eigentlich wo ich geh und steh. Auf Rastplätzen werd ich zum Abendessen, zum Kuchen und auch immer wieder zum Kaffee trinken eingeladen, bekomm auch schon mal Kohle für meinen kleinen Kocher mit auf den Weg, Schokoladensojamilch oder auch mal Kaffee (wenn die Australier und ich etwas gemeinsam haben, dann ist es eine gewisse Kaffeesucht), einen Polizisten im Ruhestand, der mir ganz stolz seine alte Polizeimarke zeigt, kann ich nicht davon abhalten, während ich einkaufe mein Fahrrad zu bewachen, ein Motorradfahrer, der auf dem Weg nach Norden ist, gibt mir seine Handschuhe für den kalten Süden mit und Billy, ein Rennpferdzüchter, der am Nachmittag mit seinem Pickup an mir vorbeigefahren und kurz gehalten hat, besucht mich abends ganz überraschend mit zwei Dosen Bier am Zelt – nur um zu schauen, ob alles ok ist. Und das sind nur die Beispiele, die mir jetzt gerade auf die Schnelle einfallen.

Und ähnlich wie im Iran, wo es häufig hieß: Welcome to Iran, bekomm ich hier zum Abschied oft ein „Enjoy Australia!“ mit auf den Weg. Und ich muss sagen, sich hier wohlzufühlen, wird einem auf jeden Fall richtig leicht gemacht. Und da ist es dann wirklich auch verschmerzbar sich am Abend noch ein paar Hügel hochzuschimpfen.

Und es ist ja nicht so, dass es kaum vorangeht. Mein zweites Etappenziel Melbourne hab ich jetzt nämlich bald erreicht. Nach nur etwas mehr als drei Wochen. Hätt ich nicht gedacht, dass das so schnell geht. Am Sonnabend müsste ich es eigentlich geschafft haben. Zwei, drei Tage Pause werd ich mir in Melbourne dann gönnen, bevor es mit der Great Ocean Road dann auf die letzte Etappe in Australien gehen wird.