Stopp. Was war das? Hat sich da nicht gerade eine meiner Taschen bewegt? Hm, alles ruhig, werd mich wohl nur verguckt haben. Ich sitze im Zelt, irgendwo mitten im Wald. Draußen ist es lange schon dunkel und es regnet in Strömen. Die Great Ocean Road hab ich am frühen Nachmittag verlassen, um auf einem abgelegenen Rastplatz im Otway-Nationalpark zu übernachten. Ich bin umgeben von Bergen und Wald und in ein paar Metern Entfernung kann man das Rauschen eines über die Ufer getretenen Baches hören. Außer mir keine Menschenseele hier. Könnt richtig idyllisch sein, wenn das Wetter besser wäre. In den letzten Tagen hat es allerdings oft geregnet. Die Luft ist schwer und nasskalt und der Boden ziemlich aufgeweicht. Aufgrund dessen ist es momentan gar nicht so einfach einen guten Platz fürs Zelt zu finden.
Aber was das betrifft, hatte ich heute Glück. Hab mir ja extra auch eine Unterlegplane besorgt. Daher ist mein Zelt zumindest von unten immer noch schön trocken. Trotz der Nässe draußen ist es irgendwie gemütlich im Zelt. Vor mir brennt mein kleiner Gaskocher vor sich hin und ich sitze dick eingepackt mit Mütze, Schal und Jacke auf meiner Isomatte und rühre im Schein meiner Kopflampe die im Topf dampfenden Nudeln und das Gemüse um. Noch drei Esslöffel Tomatenmark dazu, ein bisschen Salz und Pfeffer und dann kurz ziehen lassen. Hab schon richtig Hunger. Das Abendessen ist immer einer der Höhepunkte des Tages für mich. Und da können dann auch unglaubliche Mengen weggehen. Mein 1,5-Liter-Topf reicht oftmals gerade so aus und ist meist randvoll gefüllt. Radfahrer haben halt immer viel Hunger.
Da! Jetzt hab ichs wieder gesehen. Meine Tasche. Schon wieder hat sie gewackelt. Jetzt muss ich aber mal nachschauen. Vorsichtig gehe ich in die Hocke und beuge mich langsam nach vorne – bloß nicht den Topf mit dem Essen umschmeißen, (wäre nicht das erste Mal). Und tatsächlich…ich hab Besuch. Hinter einer meiner Taschen sitzt eine dicke Ratte und schaut mich aus großen schwarzen Augen an. Wahrscheinlich kann sie mich wegen des grellen Lampenlichts nicht sehen, denn sie schaut vollkommen unbeeindruckt zu mir herauf. Als ich mich bewege, verschwindet sie allerdings sofort nach draußen. Ich muss an Thomas und Jeremy und unsere vier Tage am See denken. Die beiden hatten damals auch eine Ratte im Zelt gehabt. Nachts, als sie mal kurz die Augen aufgemacht haben, haben sie sie entdeckt, wie sie auf der Spitze ihres Innenzeltes saß. So etwas sorgt sicher für bleibende Erinnerungen. Ich habs da ja noch richtig gut erwischt. Und meine Ratte ist ja auch gleich wieder verschwunden.
Die Freude währt allerdings nicht lang – ich bin gerade am essen – da kommt sie schon wieder unter dem Außenzelt durchgekrabbelt. Ganz schön frech. Meine Anwesenheit kümmert sie scheinbar nicht im geringsten. Sie rennt ums Innenzelt herum, verschwindet unter der Unterlegplane, taucht an anderer Stelle wieder und versteckt sich dann zwischen meinen Taschen. Oder ist sie jetzt da irgendwo reingekrabbelt? Oh man… Ich schau nach, kann aber nichts finden. Aber mein gepflegten Abendesssen kann ich für heute wohl vergessen. Ich ess schnell fertig, verstaue das, was ich heute Nacht nicht zwingend brauchen werde in meinen Taschen, schlepp alles raus aufs Plumsklo, wo ich schon mein Fahrrad untergestellt habe und befestige die Taschen an den Gepäckträgern. Sicher sind die dort besser aufgehoben als am Zelt.
Wie erwartet, wird die Nacht unruhig. Um mich herum raschelt es in unregelmäßigen Abständen. Dazu nehme ich immer wieder Nagegeräusche wahr. Mal links, mal rechts, mal dicht neben mir und mal ein paar Meter weiter weg. Ich hör die Ratte unter der Plane verschwinden und merke dann irgendwann auch, wie sie aufs Innenzelt hopst und herunterpurzelt. Ich verzieh mich in die Innenzeltmitte, was bei einem Einmannzelt bedeutet, sich ganz schmal zu machen und zusammengerollt mit angezogenen Beinen zu schlafen. Hab nämlich keine Lust mit einer Ratte auf meinem Gesicht oder auf den Füßen aufzuwachen. Das würde dann bei mir für bleibende Erinnerungen sorgen. Gegen vier oder fünf ist mein Besuch dann endlich verschwunden und ich finde noch ein paar verdiente Stunden Schlaf.
Am nächsten Morgen ein kurzer Zeltcheck. Zum Glück ist nichts angenagt oder dergleichen. Aber ich hab vier kleine Geschenke vor meiner Zelttür liegen. Naja, ich habs ja überlebt.
Nach einem Müslifrühstück geht es über Waldwege und kleine Landstraßen wieder zurück auf die Great Ocean Road. Neben Sydney war die sie ja der Grund, warum ich mich bei meiner Routenplanung für die Ostküste Australiens entschieden haben. Aber selbst wenn ich nicht schon vor meiner Reise von der Great Ocean Road gelesen hätte, so wäre ich doch spätestens hier darauf aufmerksam geworden. Immer wieder wurde nämlich in den vielen Touristen-Informationscentern auf meinem Weg nach Süden von der Great Ocean Road geschwärmt. Die dürfe ich auf gar keinen Fall verpassen. Eher sollte ich weniger Pausen machen, aber Australien ohne die Great Ocean Road geht nicht. Wie oft hab ich das gehört. Und nicht nur in den Infocentern. Oft auch auf der Straße. Es war also klar, dass da kein Weg dran vorbeiführen kann.
Die Great Ocean Road beginnt in der Nähe von Melbourne und ist vor allem erstmal eine ganz normale Landstraße. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich von Kriegsheimkehrern als eine Art Arbeitsbeschaffungs- und Wiedereingliederungsmaßnahme errichtet, um die vielen, teilweise nur per Boot zu erreichenden Küstenorte zu verbinden, aber auch um ein Denkmal für die im Krieg gefallenen Kameraden zu schaffen. Die Great Ocean Road gilt daher auch als eines der größten Kriegsdenkmäler der Welt. Was sie so besonders macht, ist zum einen eben dieser Fakt, zum anderen ist es aber ihr Verlauf und ihre Umgebung. Sie beginnt in Torquay, einem kleinen Ort direkt an der Südküste und verläuft dann zum Teil äußerst spektakulär, direkt an der zerklüfteten Meeresküste entlang Richtung Westen. Unglaublich beeindruckend. Sie führt vorbei an Stränden, die wegen ihrer hohen Wellen gerade bei Surfern sehr beliebt sind, über Berge und durch die Regenwälder des Great-Otway-Nationalparks, vorbei an kleinen Ortschaften, Farmen und am Ende dann auch mal an einer eher unbesonderen Agrarlandschaft. Landschaftlich ist die Strecke also sehr abwechslungsreich.
Mit Sicherheit ist die Great Ocean Road eines der touristischen Highlights in Victoria. Man kommt von Melbourne recht einfach hin und kann sie sich selbst dann auch ganz individuell in kleinere Tagesetappen einteilen und abfahren. Kleine Etappen reichen auch vollkommen aus, denn es gibt wieder so viele schöne Ecken, dass man eigentlich alle paar Meter anhalten muss. Vielerorts kann man aber auch Tagestouren buchen und die 241 Kilometer im Minibus an einem Tag abfahren. Ich lass mir aber Zeit. Insgesamt neun Tage brauche im vom Anfang bis zum Ende.
Sie war nochmal ein schöner Abschluss meiner Zeit in Australien, die Great Ocean Road. Nach 3756 Kilometern und fast drei Monaten im Land – die mir im Rückblick aber eher wie zwei kurze Wochen vorkommen – bin ich jetzt zum zweiten Mal in Melbourne angekommen. Die nächsten beiden Tage wird es für mich nochmal einiges zu organisieren geben. Am Donnerstag geht nämlich mein Flug nach Neuseeland. Bis dahin muss ich mir noch einen Karton für mein Fahrrad besorgen, mein Zelt, die Heringe und mein Rad wegen der Quarantänebestimmungen in Neuseeland gründlich putzen, das Rad dann auseinanderbauen und abreisefertig verpacken und mich auch schon um einem Rückflug nach Deutschland kümmern. Ein Rück- oder Weiterflugticket ist nämlich für die Einreise nach Neuseeland zwingend erforderlich. Es gibt also noch einiges zu tun.
Rückblickend kann ich sagen, dass Australien ein absoluter Traum gewesen ist. Sowohl landschaftlich, als auch was die Menschen betrifft, die ich hier getroffen habe, Australier wie Nichtaustralier. Vor allem die freundlich-lockere und unkomplizierte Mentalität der Australier hat es mir irgendwie angetan. Ganz besonders mochte ich immer das euphorische „No worries.“, als Antwort darauf, wenn man sich irgendwo bedankt hat und das „How is it goin‘ mate?“ zur Begrüßung, das immer gleich eine total entspannte Atmosphäre geschaffen hat. Egal ob an einem Rastplatz, an der Kasse oder irgendwo am Strand. Geschwärmt wurde hier in Australien hingegen sehr oft von Neuseeland. Daher bin ich jetzt schon ganz gespannt, was mich da wohl erwarten wird.
Das letzte Land auf meiner Reise. Übermorgen gehts los…..