Von Küste zu Küste

Früh am Morgen am Kapitea-Stausee bei Kumara. Ich lieg im Zelt und bin gerade aufgewacht. Die Nacht war ziemlich unruhig. Gut geschlafen hab ich auf jeden Fall nicht. Ständig wurde ich vom Regen geweckt, der auf mein Zeltdach geprasselt ist. Eigentlich sollte es gestern schon regnen. Da hatte ich allerdings noch Glück. In der leisen Hoffnung vielleicht auch weiterhin vom Regen verschont zu bleiben, war mein Plan für heute daher, die Südalpen zur Hälfte zu überqueren und bis Arthur´s Pass zu kommen. Mit 69 Kilometern und knapp 800 zu überwindenden Höhenmetern wäre das von hier aus ja eigentlich auch absolut machbar. Bei der aktuellen Wetterlage will ich mir jedoch noch nicht mal im Ansatz vorstellen, auch nur einen Meter vors Zelt treten zu müssen. Besonders jetzt, wo ich noch in meinem warmen Schlafsack liege.

Soll ich überhaupt fahren? Ich könnte ja auch einfach hier bleiben und versuchen den Regen auszusitzen. Vorräte für zwei Tage hätte ich da. Zeit hätte ich auch genug und bisher ist ja auch noch alles trocken, abgesehen von meinem Außenzelt. Hier zu bleiben wäre also durchaus eine Option. Und momentan zugegebenermaßen auch auch eine ziemlich verlockende. Allerdings sind die Wetteraussichten für die weitere Woche nicht unbedingt besser, so dass ich morgen früh das gleiche Problem hätte, dann jedoch nur noch mit Vorräten für einen Tag.

Wieder so eine Situation, in der guter Rat teuer ist. Ich glaub, derlei Entscheidungen müssen beim Essen getroffen werden. Und da brauch ich jetzt auf jeden Fall Nervennahrung. Zum Frühstück gibt’s daher eine Tasse Kaffee und eine ganze Packung Haselnusswaffeln. Morgens gleich mal sündigen… Die sind aber auch so unglaublich lecker. Und sie helfen bestimmt auch beim Nachdenken. Da der Regen während meines Frühstücks etwas nachlässt, entscheide ich mich spontan dafür es zu probieren. Die Hälfte der Strecke würde ja auch schon reichen. Und ich weiß ja eigentlich auch, dass diese Regenfahrten gar nicht so dramatisch sind, wenn man mal auf dem Rad sitzt und unterwegs ist. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, denn zuallererst muss ich ja alles zusammenpacken und das Zelt abbauen. Bei Nässe ist das jedes Mal eine unglaubliche Überwindung für mich. Kann man sich vielleicht gar nicht so vorstellen. Eigentlich muss man ja nur irgendwelche Dinge in Taschen stecken, diese am Rad befestigen, dann das nasse Zelt abbauen, einpacken und ebenfalls am Rad verstauen. Klingt total simpel, ich finds jedoch viel anstrengender, als einen ganzen Tag durch den Regen fahren zu müssen. Irgendwann an diesem nassen Morgen ist der ganze Abbau dann aber erledigt und ich stehe abfahrbereit an der Straße und kann los.

Zunächst bleibt es relativ flach. Zum Einfahren finde ich das ganz angenehm. Und auch der Regen stört mich nicht sonderlich. Das ist echt immer das gleiche. Morgens im Zelt kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen, aber wenn ich dann mal auf dem Rad sitze, ist es wirklich auszuhalten. Nach etwa dreißig Kilometern komme ich an einem leerstehenden Hotel vorbei. Hier lacht mich ein langes Vordach an, unter dem es schön trocken ist. Obwohl meine Passfahrt bisher ja nicht sonderlich anstrengend war, ist es Zeit für eine erste Pause. Vor dem großen Anstieg brauche ich noch etwas Vernünftiges zu essen, denn so ein Waffelfrühstück hält ja nicht unbedingt sehr lange vor. Irgendwie wundert mich das ja schon: ich habe fast die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, aber bisher kaum Höhenmeter gemacht. Zwischendrin ging es sogar mal wieder ein ganzes Stück bergab. Also entweder habe ich eine komplett falsche Höhenangabe im Kopf oder es wird noch ganz schön steil.

Es sollte letzteres der Fall sein. Fünf Kilometer hinter dem kleinen Ort Otira zeigt mein GPS-Gerät gerade einmal eine Höhe von knapp 400 Metern an. Bis zum Pass mit 920 Höhenmetern sind es jetzt allerdings nur noch zehn Kilometer. Da kann ich mir ja lebhaft vorstellen, was gleich passieren wird. Und tatsächlich, wie sich herausstellen sollte, stehe ich gerade am Anfang eines der anstrengendsten Abschnitte meiner Reise. Ziemlich bald wird es nämlich steil – also so richtig – so dass ich nur noch mit Mühe und Not in Schrittgeschwindigkeit fahren kann. Etwas später bin ich froh, überhaupt noch irgendwie voranzukommen. Auf etwa einem Kilometer gehts hier fast 200 Meter in die Höhe. An einer Überdachung zum Schutz vor Steinschlägen muss ich anhalten und eine Pause einlegen. Kurzzeitig wird mir ganz schummrig vor Augen, so dass ich eine Weile über meinem Fahrrad gebeugt dastehe und abwarte, bis es wieder besser ist. Noch zwei Kilometer bis zum Pass….

Solange keine Autos in Sicht sind, nutze ich ab jetzt die gesamte Breite der Straße und arbeite mich in flachen Zickzacklinien den Berg hoch. Dazu zähle ich immer 100 Pedalumdrehungen ab, mach kurz eine Pause, steig dann wieder aufs Rad und zähl erneut 100 Umdrehungen ab. So gehts halbwegs und ich komme einigermaßen vorwärts. Ich versuche auf jeden Fall so lange wie möglich zu fahren, da es hier noch viel anstrengender wäre zu schieben. Für die wenigen Kilometer brauche ich weit mehr als eine Stunde.

Irgendwann taucht dann aber ein dunkler Steinblock neben mir am Straßenrand auf. Im Vorbeifahren erkenn ich einen verblichenen Schriftzug: Arthur´s Pass. Soll ich vielleicht ein Foto….? Noch ehe ich zu Ende gedacht habe, bin ich auf der anderen Seite schon wieder auf dem Weg nach unten Endlich kann ichs rollen lassen. Aber das kann ich eigentlich nicht bringen, so ganz ohne Foto nach dieser Tortur. Ich überleg kurz….und eh ich zu weit unten bin, brems ich ab und fahr nochmal zurück. Schnell das Stativ aufbauen, ein Foto machen und wieder weiter. Ich hätt ja im Leben nicht gedacht, dass ich es heute bis hier her schaffe. Durchnässt und langsam auch frierend fahr ich zur Jugendherberge im Ort und genieß hier für den Rest des Abends die behagliche Wärme in dem kleinen Wohnzimmer und meine Reservepackung Waffeln für Notfälle wie heute.

In Arthur´s Pass Village bleibe ich einen Tag. Zwar regnet es auch an diesem fast durchgehend, aber eine kleine Wanderung mach ich trotzdem. Wenn ich schon mal hier bin. Den größten Teil meines freien Tages mach ichs mir jedoch in dem kleinen Wohnzimmer gemütlich, sitz auf einer Couch direkt an der gläsernen Terrassentür, schau ab und zu nach draußen (und freu mich, dass ich hier drinnen im Warmen sitzen kann) und bin ganz vertieft in einen spannenden Krimi, den ich im Büchertauschregal gefunden habe. Jetzt noch einen heißen Früchtetee mit Honig und ein prasselndes Kaminfeuer….das wärs.

Den Krimi schaff ich leider nur zur Hälfte, denn am nächsten Tag geht es auch schon wieder weiter. Für heute ist sonniges Wetter angekündigt und das will ich unbedingt nutzen. In welch schöner Umgebung ich gelandet hier bin, seh ich jetzt erst so richtig, denn die beiden letzten Tage hingen die Wolken so tief, dass man die Berge allerhöchstens erahnen konnte. Schnell klart der Himmel auf und im warmen Sonnenschein kann ich mich auf den Weg machen. Und auf was für einen…

Es ist kann kaum zu beschreiben, wie schön es hier ist. Genau so hab ich mir Neuseeland immer vorgestellt: schneebedeckte Berggipfel, weites Land und eine Umgebung, vor der man nur noch mit offenem Mund stehen und staunen kann. Ständig muss ich an- und innehalten. Schon nach 30 Kilometern ist für heute Schluss, denn am Lake Pearson finde ich einen so schönen Platz für mein Zelt, dass ich einfach hier bleibe und den Rest des Tages am See genieße. Am nächsten Tag werde ich früh von der Sonne geweckt. Heute durchquere ich den westlichen Teil der Südalpen. Und es bleibt trocken und warm. Bei diesem Wetter sind die Südalpen ein absoluter Traum. Ich würde sogar sagen, dass es landschaftlich mit das Schönste und Beeindruckendste ist, was ich auf meiner gesamten Reise gesehen habe.
Man kann diese Strecke auch in einer Tagesreise mit dem Zug bewältigen, was gerade bei Besuchern ziemlich beliebt ist. Wie ich in einem Reiseführer gelesen habe, gehört diese Passage mit zu den schönsten Zugstrecken der Welt. Das glaub ich auf jeden Fall sofort.

Nach drei Tagen erreiche ich dann schon die Westseite der Alpen. Die letzten 70 Kilometer nach Christchurch geht es von hier durch flaches Farmland. In Christchurch selbst bin ich vorgestern angekommen. Hier hab ich zum ersten Mal das Gefühl es tatsächlich geschafft zu haben, denn Akaroa befindet sich jetzt nur noch eine gemütliche Tagesetappe entfernt. Das muss jetzt erst mal langsam bei mir ankommen. Daher leg ich hier in Christchurch nochmal einen Zwischenstopp von einem oder zwei Tagen ein, bevor es dann auf das jetzt wirklich allerletzte Stück meiner Reise gehen wird.