Ein Müsli, drei Tassen Kaffee und ich bin startklar. Meine Taschen hab ich gestern Abend schon gepackt, daher brauch ich die jetzt nur noch am Fahrrad festzumachen und kann losfahren. Und es ist gerade erst 8:30 Uhr. Nicht schlecht. Erstmal raus aus Jerewan. Dank meiner neuen Karte von Armenien inklusive Stadtplan find ich den Weg ohne Probleme. Mein nächstes großes Ziel ist Meghri, ganz im Süden von Armenien. Wenn alles läuft wie geplant, werde ich hier in der kommenden Woche die Grenze zum Iran überqueren. Bis dahin sinds aber noch knapp 400 Kilometer. Und die werden ziemlich anstrengend. Denn flache Abschnitte gibt es weiterhin kaum. Es geht bergauf und bergab. Die ganze Zeit. Und dazu bleibt es heiß, bis 38°C sind angekündigt. Ich rechne daher mal mit 70 Kilometern pro Tag. Das kann man gut schaffen. Auch bei der Hitze. Knapp eine Woche werde ich also noch bis zur iranischen Grenze brauchen.
Ab Jerewan fahr ich erstmal wieder auf der Bundesstraße M2. Das ist zwar recht unspektakulär, dafür gehts aber flott voran. Weil es flach ist und vielleicht auch, weil ich drei Fahrspuren für mich allein hab. Von ein paar Bauarbeitern wurde ich nämlich auf den noch gesperrten Abschnitt rübergewunken. Eine Autobahn ganz für mich allein. Hab ich auch noch nicht gehabt.
Es wird ziemlich schnell heiß. Gegen 10 Uhr ist längst nichts mehr von der angenehmen Morgenfrische zu spüren. Zu Trinken hab ich daher reichlich dabei. Insgesamt 4 Liter. Und unterwegs kann ich immer wieder an einem der vielen Brunnen nachtanken. Wenn sie denn Wasser haben. Das ist aber nicht immer der Fall. Daher sorg ich lieber vor.
Knapp 25 Kilometer südlich von Jerewan verlasse ich die M2. Ich hab mir wieder eine kleine Nebenstrecke ausgesucht, um die Gegend ein bisschen mehr zu erleben. Ich muss noch nicht mal einen großen Umweg fahren, denn nach gut 45 Kilometern treffen Nebenstraße und M2 wieder aufeinander. Und beide Abschnitte sind ungefähr gleich lang. Bevor es weiter geht, leere ich an einer Tankstelle aber erstmal mein warm gewordenes Wasser aus und fülle alle Flaschen mit kühlem Wasser. Innerhalb der nächsten Stunde wird das zwar wieder warm sein, aber wenigstens bis dahin ist es schön erfrischend. Ab Vedi wirds dann einsam. Laut Karte muss ich an vier kleinen Orten vorbeifahren und komme dann an eine Straße, die zu einem Kloster führt. Das möchte ich mir gern noch anschauen. Knapp 40 Kilometer sinds bis dahin. Und dann bin ich auch schon fast wieder auf der M2. Könnt ich bis zum Abend schaffen.
Aber so ganz geht mein Plan nicht auf, denn hinter Vedi wird’s langsam wieder bergiger. Das konnt ich auf meiner Karte nicht erkennen, denn auf der sind keine Höhenlinien eingezeichnet. Dass Berge kommen war klar, aber ich dachte eher zum Ende hin.
Das Fahren ist jetzt ziemlich anstrengend, denn es ist unglaublich heiß, es gibt kaum Schatten, viel Gegenwind und es geht stetig bergauf. Die Abschnitte zwischen den einzelnen Ortschaften fühlen sich daher endlos an, obwohl es ja immer nur etwa 10 Kilometer sind. Mein Wasser ist irgendwann auch wieder warm und trägt kaum noch zur Erfrischung bei. Aber glücklicherweise finde ich bald wieder einen Brunnen und kann meinen Wasservorrat auffüllen und mich ein bisschen abkühlen. Gegen 18 Uhr bin ich noch immer meilenweit von meinem Kloster entfernt. Man, da hab ich mich aber echt verrechnet. Jetzt ist vollkommen klar, dass ich das nicht mehr schaffen kann und in den Bergen übernachten muss.
Bei Lanjanist frag ich einen Rinderhirten, ob ich hier irgendwo zelten kann. Natürlich kann ich. Überall. Aber ich kann auch mit zu ihm kommen, meint er. Da kann ich mich duschen. Und außerdem bereitet seine Frau gerade das Abendessen vor. Es sind nur ein paar Hundert Meter bis zu seinem Haus. Klingt verlockend. Ich bin mir unsicher, ob ich das annehmen kann und frag daher nochmal nach, ob es tatsächlich kein Problem ist. Kein Problem. Überhaupt nicht. Ich kann ruhig mitkommen. Und so laufen wir gemeinsam zu seinem Haus. Micha, so heißt der Hirte, zeigt mir kurz die Dusche und bringt mir ein Handtuch. Er muss dann aber nochmal los, die Rinder und Schafe von der Weide holen und in den Stall bringen. Aber in 20 Minuten ist er wieder da. Seine Frau Anna und seine Schwester kommen derweil aus dem Garten und fangen an das Abendessen zuzubereiten. Fast alles, was sie zum Leben brauchen, bauen sie selber an. Die Milch kommt jeden Morgen frisch aus dem Stall, und auch der Käse und die Wurst werden selbst gemacht. Das Abendessen schmeckt fantastisch und es gibt so viel, dass ich fast platze.
Kaum haben wir fertig gegessen, steht Alex, Michas Nachbar, in der Tür. Irgendwie hat er mitbekommen, dass Besuch da ist. Und so dauert nicht lang, da ist mein Abend und auch mein nächster Tag verplant. Heute will Alex mit mir auf die Baustelle seines neuen Hauses fahren. Dort gibts ein zweites Abendessen mit seinen Freunden und den Nachbarn, die Alex beim Hausbau behilflich sind. Und morgen findet die Geburtstagsfeier von Michas Neffen Arman statt. Und da steh ich jetzt auch auf der Gästeliste. Alex fährt seinen alten Lada vor und es geht los. Durch die Nacht und über steinige Feldwege. Mit schlafwandlerischer Sicherheit und ohne Rücksicht auf Verluste quält Alex seinen Lada Pisten entlang, die den Vergleich mit mitteleuropäischen Offroadparks nicht im Geringsten zu scheuen bräuchten.
Und während wir so durch die Nacht brausen, bin auf einmal ganz überwältigt von dieser großen Herzlichkeit und Gastfreundschaft, die ich hier erfahre. Ich mein, Micha und Alex, die kennen mich ja überhaupt gar nicht. Ich bin einfach irgendein Fahrradfahrer, den Micha auf der Straße getroffen hat. Und trotzdem werd ich hier so herzlich aufgenommen, von Alex auf ein Abendessen oder von Micha nach Hause eingeladen und den Nachbarn und Freunden vorgestellt. Ich bekomm ein Handtuch, kann mich duschen, bekomm zu Essen und einen Platz zum Schlafen. Einfach so. Ganz selbstverständlich und vollkommen ungezwungen. Und ohne, dass irgendwer etwas dafür haben will. Für solche Erlebnisse und Erfahrungen bin ich wirklich unglaublich dankbar. Sie bereichern meine Reise ungemein.
Insgesamt zwei Nächte verbring ich bei Micha und seiner Familie in Lanjanist. Nach einem reichhaltigen Frühstück mach ich mich am Samstag dann wieder auf den Weg. Micha und Anna bereiten noch bergeweise Essen für mich vor. Brot, ihren Käse und Gemüse aus dem Garten. Und dazu eine kleine Flasche Wodka und eines von Michas Wodka-Gläsern. Schwer bepackt geht es damit zurück auf die M2, mit 40 Stunden Verspätung zwar, aber dafür reich beschenkt mit vielen Eindrücken und Erlebnissen.
Weiter geht es dann durch die Provinz Wajos Dsor und über den Vorotan-Pass Richtung Goris. Die Landschaft ist atemberaubend schön und lädt zu vielen Pausen ein. Der Aufstieg zum Pass ist lang, aber nicht so beschwerlich wie die Fahrt vorgestern. Vielleicht auch weil jeder dritte Autofahrer hupt, winkt oder den Daumen in die Höhe streckt. Kurz unterhalb des Passes bau ich am Abend mein Zelt auf und genieße die Ruhe und den Blick über die Berge.
In Goris bin ich gestern schließlich angekommen. Hier werd ich mich jetzt mit Dollar oder Euro für den Iran eindecken müssen, denn aufgrund der noch immer bestehenden Sanktionen ist es nach wie vor nicht möglich im Iran Geld abzuheben, so dass ich mein gesamtes Reisebudget in bar mitführen muss. Ich hoffe, dass ich am Mittwoch weiterfahren kann und dann am Freitag den Iran erreiche.