Vogelgezwitscher kündigt den langsam beginnenden Tag an. Den letzten auf meiner Reise nach Akaroa. Draußen ist es noch dunkel. Ich bleib daher noch eine ganze Weile im Schlafsack liegen, und lausche in den Morgen hinaus. Die Umgebung könnte idyllischer kaum sein. Mein Zelt steht inmitten von Bergen am Ufer eines Sees, ein paar Meter von einem plätschernden Bach entfernt. In Neuseeland hab ich zufälligerweise ganz oft an Bächen gezeltet, geht es mir durch den Kopf. Beim Einschlafen fand ich das immer total angenehm. Wasser klingt ja so schön gleichmäßig und beruhigend. Sowohl das rauschende Meer als auch ein dahinfließender Bach. Auf jeden Fall genau das Richtige, um nach einem langen Tag ganz sanft hinwegzudämmern. Gut geschlafen hab ich heute Nacht aber trotzdem nicht. Dazu war ich einfach viel zu aufgeregt.
Kurz bevor die Sonne aufgeht, steh ich auf und setzt mich für eine Weile ans Ufer. Heut ist also der letzte Tag, an dem ich unterwegs sein werde. Ich versuch mir das immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und alles um mich herum nochmal ganz bewusst zu erleben: die langsam erwachende Natur, das Sitzen am Zelt und auch nochmal meine tägliche Vorfreude auf das Frühstück. Das gibts heute direkt am Wasser. Zwei Tassen Kaffee und dazu leckeres Brot mit Butter und Nutella. Zur Feier des Tages. Während des Frühstücks wandert mein Blick immer wieder die Hügelkette entlang Richtung Osten. Irgendwo dort hinten liegt Akaroa. Es dürften eigentlich kaum mehr als 30 Kilometer sein. Einen dieser Hügel muss ich noch erklimmen und dann geht es fast nur noch bergab.
Gegen zehn Uhr hab ich zusammengepackt und mach mich auf den Weg. Die ersten Kilometer kann ich noch auf dem Little River Rail Trail fahren, einem kurzen Radwanderweg, der auf der ehemaligen Bahnstrecke Christchurch – Little River entlangführt. Am Beginn meiner Reise bin ich ja auf dem Donauradweg entlang geradelt. Dass ich jetzt auf den letzten Metern auch nochmal auf einem Radwanderweg fahren kann, freut mich irgendwie. Richtig schön ist es hier. Und auch das Wetter könnte besser nicht sein. Als hätte ich es bestellt. Und es erinnert mich ebenfalls an die ersten Wochen meiner Reise. Die Sonne scheint, es ist angenehm warm und man merkt richtig, wie der Frühling in seinen Startlöchern steht. Was für ein Kontrast zu den ganzen letzten Wochen und den Tagen vor Arthur´s Pass.
In Little River mach ich kurz Pause und schau mir am Ende des Rail Trails das alte Bahnhofsgebäude an. Bis in die 1960er Jahre sind hier von und nach Christchurch Züge gefahren. Heut ist das Bahnhofsgebäude Museum, gemütlicher Kruschtladen und Café. Beim Versuch die Infotafeln zu lesen, merk ich, dass ich mich überhaupt nicht konzentrieren kann. Draußen ist Frühling, die Sonne scheint und Akaroa ist nur noch ein paar Kilometer entfernt – ich muss unbedingt weiter. Nach Little River wird es etwas hügliger. Auf der Christchurch-Akaroa-Road geht es in steilen Kurven ca. 500 Höhenmeter bergauf. Von hier oben müsste ich Akaroa eigentlich bald sehen können. Bestimmt hinter der nächsten Kurve. Ich dreh und reck meinen Kopf ganz hoch in die Luft, um so weit es geht vorauszusehen. Aber noch ist die Böschung rechts von mir zu hoch. Da muss ich mich also noch ein paar Meter gedulden.
Aber dann. Am Ende der nächsten Kurve geben die Berge endlich den Blick nach Südosten frei. Noch nicht sehr viel, aber doch genug, um eine langgezogene Bucht zu erkennen und ganz an deren Ende eine größere Ansammlung von Häusern. Das muss es sein. Ich schau auf meiner Karte nach und vergleiche die Halbinselformen mit denen auf meiner Karte. Und tatsächlich. Ganz da hinten am gegenüberliegenden Ende der Bucht, das ist Akaroa. Unglaublich… Wirklich unglaublich. Zum allerersten Mal seh ich Akaroa mit meinen eigenen Augen. Laut Navi sind es von hier noch 18 Kilometer. Die geht es jetzt fast nur noch bergab. Ziemlich bald verschwindet Akaroa daher wieder hinter den Bergen. Aber in relativ kurzen Abständen weisen ab jetzt Straßenschilder darauf hin, dass ich meinem Ziel immer näher komme. Akaroa 10 Kilometer….Akaroa 3 Kilometer….und dann bin ich auf einmal da.
Ich passiere das Ortsschild von Akaroa und fahre die letzten Meter bis in die Ortsmitte. Ich bin in Akaroa! Nach 523 Tagen, über 21000 Kilometern auf dem Fahrrad und etlichen weiteren Tausend in Flugzeugen, Zügen, Bussen, Schiffen und Taxis. Ich hab mir oft versucht vorzustellen, wie das wohl sein wird, in Akaroa anzukommen. Und wie auch immer das dann aussah, bei einer Sache war ich mir jedes Mal absolut sicher: und zwar, dass ich unglaublich aufgeregt sein werde.
Und das würde ich hier und jetzt eigentlich gern auch genau so schreiben: dass ich absolut überwältigt und aufgedreht war und die Welt für einen kurzen Moment stillzustehen schien. Überraschenderweise hat es sich aber ganz anders angefühlt. Meine Aufregung und Anspannung, die waren auf einmal komplett verschwunden und ich war plötzlich ganz ruhig. Das muss während der letzten 18 Kilometer passiert sein. Auf der Hügelkuppe, dort, wo ich Akaroa zum ersten Mal gesehen habe, war das jedenfalls noch ganz anders.
Es ist ganz seltsam, trotz der Tage und Wochen, die ich Zeit hatte mich auf diesen Moment einzustellen, kommt bei mir jetzt, wo ich tatsächlich hier bin überhaupt nicht an, dass ich gerade mitten in Akaroa stehe und mein Ziel erreicht habe. Zumindest nicht in der Form, wie ich es vermutet hätte. Es fühlt sich eher wie das Erreichen eines weiteren Etappenziels an, so wie die Ankunft im Donaudelta, im Iran oder die in Sydney. Schon aufregend, aber überhaupt nicht wie das Ende meiner Reise. Zu wissen, dass man in Akaroa angekommen und nun etwas zu Ende gegangen ist, ist das eine, es dann aber in dem Moment emotional auch genau so zu erleben und komplett zu realisieren, das ist dann scheinbar doch nochmal etwas ganz anderes. Zumindest bei mir. Es ist vielleicht so ähnlich, wie wenn man ganz lange Karussell gefahren ist und dann auf einmal anhält und absteigt. Da dreht sich dann auch noch für eine Weile alles um einen herum, obwohl man ja schon längst wieder festem Boden unter den Füßen hat. Aber….trotz allem freu ich mich natürlich total in Akaroa zu sein. Allein schon wegen des sonnigen Wetters und der schönen Umgebung.
Ich mach daher auch gar nicht so viel anderes als sonst auch. Erstmal kauf ich mir etwas Leckeres zu Essen. Ein Baguette und meine neuseeländische Lieblingsschokolade – und damit setz ich mich auf eine Bank in die Sonne, hör einem Straßenmusiker zu und beobachte einfach das Treiben um mich herum. Und so vergehen meine allerersten Minuten in Akaroa. Auf jeden Fall vollkommen anders als erwartet, ganz ohne Wehmut und Traurigkeit, die einen ja auch überkommen könnte sondern eigentlich fast schon unspektakulär, aber für sich genommen trotzdem schön.
Insgesamt bleibe ich vier Tage in Akaroa. Während dieser Zeit laufe ich fast alle Wanderwege in Akaroas Umgebung ab und auch fast jede Straße im Ort. Meine persönlichen Highlights sind dabei eine Wanderung zum 806 Meter hohen Stony Bay Peak Summit, von dem man eine unglaublich schöne Aussicht auf Akaroa und die Umgebung hat und eine Bootsfahrt durch die lange Bucht bis hinaus aufs Meer. Die hab ich mir an meinem letzten Tag in Akaroa noch gegönnt.
Gerade bei der Wanderung auf den Gipfel ist dann immer aber auch mal kurz durchgesickert, wo ich hier eigentlich gerade bin und wie ich hier überhaupt hergekommen bin. Besonders dann, wenn ich zufällig an Ecken vorbeigekommen bin, die ich schon etliche Male auf Fotos gesehen habe.
Mittlerweile bin ich schon wieder zurück in Christchurch und mach mich mal langsam fertig für meinen Rückflug morgen Mittag. Heut werd ich mein Fahrrad auseinanderbauen und abreisefertig verpacken, die Flug- und Zugtickets ausdrucken, versuchen mein Gepäck auf unter 37 Kilogramm zu reduzieren und nochmal eine Runde durch Christchurch spazieren. Und vielleicht schaff ichs sogar noch mich den Postkarten zu widmen, die ich in Akaroa gekauft habe. Die liegen nämlich noch alle ganz leer und unbeschrieben in meiner Tasche.
Hier in Christchurch fühlt es sich noch immer so an, wie bei meiner Ankunft in Akaroa. Ich hab überhaupt nicht das Gefühl, dass irgendetwas zu Ende gegangen ist. Daher kann ich auch noch gar kein Resümee zu meiner Reise schreiben, was ich ja eigentlich vorhatte. Dass meine Reise und damit auch das Projekt Akaroa nun beendet sind, ist mir natürlich irgendwo und irgendwie bewusst, aber bis diese Tatsache auch emotional zu mir durchgedrungen ist, werden sicher noch einige Tage vergehen. Aber das hat ja auch etwas Gutes: meine letzten Tagen in Neuseeland und auf meiner Reise sind daher nicht so sehr von Wehmut und Abschiedsschmerz geprägt, vielleicht wird das ja noch kommen, mal sehen. Momentan genieß ich einfach die letzten Stunden in Neuseeland, freu mich auf die nächsten Tage und Wochen und bin total gespannt, was die so alles bringen werden. Es fühlt sich gerade also ein bisschen so an, als würde ich einfach noch eine Zeit lang weiterreisen…